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Wer will, der kann

Ohne Beine geht´s – ohne Kopf nicht

Wenn ich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit von meinen längeren Touren berichte, bemerke ich immer wieder, dass die Vorstellung, mehr als 200 Kilometer auf dem Rad zu sitzen, für viele Menschen abstrus wirkt und mir häufig die Gegenfrage gestellt wird: „Und, hattest du ein Zelt dabei oder wo hast du übernachtet?“ Meine lapidare Antwort: „Nein, ich habe auf dem Rad übernachtet“ löst dann häufig etwas zwischen Sprachlosigkeit, Entsetzen oder dem Gefühl, gerade auf den Arm genommen zu werden, aus.

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Dabei ist es nichts Übermenschliches, lange Distanzen meditativ im Sattel zu sitzen, den Blick auf die Straße fixiert, die Gedanken kreisen zu lassen. Es ist nur etwas, das nicht massenkompatibel zu sein scheint. Witzig ist, dass der Grund für die Unvorstellbarkeit immer in der eigens diagnostizierten mangelnden körperlichen Institution gesehen wird und nie in der mentalen Verfassung. In meiner persönlichen Wahrnehmung gehen diese beiden Komponenten auf langen Radstrecken zwar Hand in Hand, aber ich halte die mentale Bereitschaft im Kopf für den wichtigeren Bestandteil. Sicherlich kann ich meinen Körper dahingehend trainieren, mit Anstrengung besser klar zu kommen, kann meine Kondition steigern und am Berg auf KOM-Jagd gehen. Das hat aber weniger Bedeutung, wenn die Kilometer mehr und mehr werden. Hier muss ich die Balance finden zwischen dem, was ich körperlich leisten kann und mental leisten will. Wenn ich meine eigenen Horizonte verschieben will, muss ich mir zunächst bewussst werden, dass es immer wieder um diesen kleinen Wettstreit zwischen Können und Wollen gehen wird. Wenn ich mich für das Wollen entscheide, erlebe ich erst, was ich wirklich kann. Wenn der Kopf sagt, es geht nicht mehr, hat der Körper aber noch 25% Reserve (vgl. Studie schwedischer Wissenschaftler 😉).

Zeit spielt eine große Rolle

Das führt mich zu dem Gedanken, dass diejenigen, die weniger schnell fahren und bei einem 6oo Kilometer Brevet von vornherein zwei Nächte einplanen, mental eine viel größere Kraft aufbringen müssen (und vielmehr im Wollen sind), als jemand, der das in 24 Stunden durchballert. Als ich 2015 bei Paris-Brest-Paris angetreten bin, wollte ich gemeinsam mit meinen beiden Begleitern einfach nur im Zeitlimit von 90 Stunden die 1200 Kilometer hinter mich bringen. Nach 86 Sunden und 16 Minuten waren wir im Ziel. Paris-Brest-Paris 2015 ist bis heute meine bislang zeitlich längste Tour, die ich nonstop auf dem Rad verbracht habe. Auch wenn es am Ende ein erbauliches Gefühl war, durchs Ziel zu rollen, so hat die Tour mich mental an mein Limit geführt und darüber hinaus. 2019 bin ich dann erneut in Paris gestartet, diesmal mit einem sportlich ambitionierten Ziel. Ich hatte mich gut vorbereitet und wollte die 60 Stunden-Marke knacken. Nach 58 Stunden und 17 Minuten erreichte ich die Zielkontrolle. Zwei Teilnahmen, zwei völlig verschiedene Herangehensweisen. Und die wichtigste Erkenntnis für mich: 2019 kam ich zimindest mental fitter ins Ziel als vier Jahre zuvor. Mein Trainingszustand hat sicherlich eine Rolle gespielt, aber nicht in dem Maße wie der Faktor Zeit: 28 Stunden und eine Minute, um genau zu sein. 2015 saß ich 28 Stunden und eine Minute länger im Sattel als 2019. Das bedeutet, 28 Stunden und eine Minute mehr Zeit:

  • Um körperliche Wehwehchen zu entwickeln
  • Um den rauhen Asphalt zu verfluchen
  • Um den Gegenwind zu hassen
  • Um Opfer seiner Müdigkeit zu werden
  • Um von allem irgendwie genervt zu sein
  • Um sich die große Sinnfrage zu stellen.

Werde ich es wieder tun?

Ich weiß nicht, ob ich mich noch jemals 90 Stunden nonstop aufs Rad begeben würde und ziehe den Helm vor allen, die sich dieser Herausforderung stellen. Ich versuche 2023 wieder herausfinden, was nonstop für mich geht. Dass es nicht auf die Beine ankommt, sondern auf den Kopf, wurde mir 2015 kurz vor meiner Zieleinfahrt in Paris noch einmal deutlich vor Augen geführt, als wir auf den letzten Kilomtern einem Mitstreiter ohne Beine begegneten, der im Rollstuhl die 1200 Kilometer bis zum Atlantik und zurück nach Paris einzig mit der Kraft seiner Arme absolviert hatte. Die gleichen 1200 Kilometer, die ich auch gerade mit zwei Beinen und dennoch am körperlichen Limit erlebt hatte. In dem Moment unseres kurzen Aufeinandertreffens war ich derjenige, der sichb ehrfürchtig eingestand: Da kann ich mir nicht vorstellen.

Über mich

Über mich

Martin Lechtschewski

Randonneur & Blogger

Hi, ich bin Martin und das Radfahren ist eine der wichtigsten Konstanten in meinem Leben. Die Faszination für Abenteuer hat mich zunächst zum Radreisen gebracht. Damals rollte ich noch behäbig über Tage bis Wochen mit 40 Kilo Gepäck über die Straßen Europas. Dabei war es immer diese eine Frage, die mich antrieb, weiter in die Pedale zu treten: "Wie ist es wohl auf den Sattel zu steigen und aus eigener Kraft eine anfangs scheinbar unwirkliche Entfernung zu überwinden, hohe Berge zu bezwingen, fremde Länder zu durchqueren und verschiedensten Menschen zu begegnen?"

Heute kann ich sagen, es ist vor allem eine Begegnung mit sich selbst. Der Moment des Starts und das Erreichen des Zieles spielen am Ende nur Nebenrollen -  Es geht vor allem um die Wege dazwischen.

Da es der Alttag nicht ohne weiteres zulässt, 5-6 Wochen am Stück auf dem Rad zu verbringen, landete ich schließlich beim Renndradfahren auf langen Strecken mit möglichst wenig Gepäck. Statt einen Monat bin ich dabei nur ein paar Stunden (bisher nicht mehr als 86) unterwegs und tauche schon mit der ersten Pedalumdrehung ins Abenteuer ein. Heute sagt man dazu Ultracycling, vielleicht auch Bikepacking. Ich finde einen vom österreichischen Langstreckenprofi Christoph Strasser geprägten Begriff viel treffender, da ich weder mit Bengalos im Trikot starte, noch das Verpacken der Ausrüstung in den Vordergrund stelle.

Es geht mir einzig ums  #Weitradlfoan.