Chasing Cancellara
Route auf KomootDer Wecker klingelt 21:35, aber eigentlich brauche ich ihn gerade nicht. Seit vier Stunden liege ich im Bett – zwar ist mein Körper entspannt, aber mein Kopf ist es nicht. Die einsetzende Nervosität vor dem Event verhindert, dass ich in einen richtigen Schlaf finde. Vorschlafen kann ich halt irgendwie nicht, aber ich fühle mich zumindest halberholt und frisch. Nach einem kurzen Abendessen (…oder ist jetzt doch schon das Frühstück?) schnappe ich mir Lea und per Bus und Bahn geht es zunächst nach Zürich. Freitagabend teilen sich hier Partygänger mit dieser seltsamen Gestalt engen Klamotten das Abteil, die sich unentwegt iregendetwas in den Mund schiebt: Pasta, Schoki, Obst und wieder von vorn. Bis zum Start sind es noch 2 Stunden. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt für etwas Energiegrundlage. Ich werde sie brauchen für den Ride über 270 Kilometer und 5600 Höhenmeter, für den ich 10-12 Stunden eingeplant habe – je nach Tagesform. Ab Zürich sehe ich ein paar andere Rennräder im Zug. Wir haben wohl alle die gleiche Destination. Eine Stunde vor dem Start steige ich aus dem Zug. Eigentlich hatte ich mir einen Track vom Bahnhof zum Startbereich des Rennens etwas ausserhalb der Stadt vorbereitet. Ich vertraue allerdings auf das Gruppetto, das sich vor dem Bahnhof zusammenfindet und denke, dass sich nicht jede Nacht ein Gruppe von Rennradfahrern zur gemeinsamen Ausfahrt versammelt, sondern dass auch sie heute Cancellara jagen wollen und schließe mich Ihnen an. Als wir wenige Minuten später Tudor-Team-Wagen vor uns sehen, weiß ich, dass wir richtig sind. Nachdem ich meinen Rucksack beim Backdrop abgegeben habe, mache ich mich bereit für den Start: Garmin checken, Proviant in die Trikottaschen stopfen, Livetrack starten – es kann losgehen. Um 2:00 gehen die ersten Solo-Fahrer auf die Strecke. Fabian Cancellara lässt es sich als Schirmherr nicht nehmen, allen persönlich ein gutes Rennen zu wünschen, bevor es in die Startzone geht. Gestartet wird in 4er-Gruppen mit ein paar Sekunden Abstand. Um 2:19 gehe ich mit 2 Belgiern und einem Schweizer auf die Strecke. Gleich ist klar, dass hier erstmal was für den Schnitt gemacht werden soll auf den ersten 27 flachen Kilometern – dem einzigen Streckenabschnitt, den Solofahrer in der Gruppe fahren dürfen. Der belgisch-schweizer-deutsche Kreisel läuft gut. Ich bin dankbar, die Richtigen an meiner Seite zu haben. Der Tempomat ist auf 45 eingestellt. Vorn im Wind trete ich mit 350 Watt, kann mich aber hinten immer wieder etwas entspannen. Wir überholen ein paar Grüppchen, die vor uns gestartet waren. Einige springen auf den Zug auf, allerdings ohne sich an der Führung zu beteiligen. Aber damit wird gleich sowieso Schluss sein. Wir erreichen Steffisburg und damit den ersten Anstieg Richtung Schallenberg. Hinter den ersten Kurven eröffnet sich mir plötzlich der Blick auf eine rote Lichterkette, die sich gen Himmel schlängelt. Ich kann den Streckenverlauf über die nächsten Kilometer gut erkennen. Die Nacht ist so warm, dass ich kurz-kurz fahre und dennoch mein Trikot im Anstieg öffne – nachts um drei!
Ich finde schnell einen guten Rhythmus, in einer Steigung, die mir gut liegt und die ich mit Schwung drücken kann. Meter für Meter arbeite ich mich nach vorn im Feld. Kurz vor dem ersten Checkpoint sehe ich immer weniger Rücklichter vor mir. Oben angekommen, fülle ich nur schnell meine Flaschen auf und weiter geht`s. Mit mir gemeinsam startet ein Streckenmotorrad und begleitet mich ab da an durch die Dunkelheit, immer in der Nähe, aber ohne Windschatten zu spenden. Radfahrer sehe ich jetzt weder vor- noch hinter mir. Erst als ich im Anstieg Richtung Glaubenberg ein WhatsApp von Anne lese, die auf den Livetrack geschaut hat, bemerke ich, dass ich nach fast 100 Kilomtern auf Platz 3 liege. Vor mir sehe ich plötzlich wieder zwei Rücklichter in der Morgendämmerung, und auch hinter mir blitzt auf langen Geraden immer mal wieder ein Radscheinwerfer auf. Ich schaue auf die verbleibenden Höhenmeter für heute, als mich ein Viehgatter unerwartet kurz durchrüttelt und das Garmin kurz darauf wie aus Protest aus der Halterung springt und nur noch vom dünnen Sicherheitsbändchen gehalten wird. Ich versuche es während der Fahrt wieder in die Halterung zu drehen, allerdings bemerke ich, dass die Halterung weggebrochen ist. Schöne Sch§%$=… Ich schaue kurz, wie viele Kilometer es noch bis zum nächsten Check Point sind, stecke das Garmin ins Trikot und fahre so wie früher – einfach mal nach Gefühl. Am Verpflegungspunkt schildere ich gleich mein Problem und mir wird sofort ideenreich geholfen. Die spontan angebotenen Reparaturmittel reichen von Pflaster, Schnipsgummi, Haargummi bis hin zu Kabelbinder – dem der ultimativen Geheimwaffe aller Randonneure. (Superlight-Toni hat damit sogar mal eine Kette so gefixt, dass er nach einem Riss noch heimfahren konnte). Schnell ist eine Lösung gefunden, die das Garmin auch dann bis Zermatt am Lenker halten wird, falls Fabian wider Erwarten noch ein hartes Gravel-Segment eingebaut haben sollte. Auch bin ich froh, dass die aufopferungsvolle Helferin ihre Haare nicht wegen mir heute offen tragen muss und reiche ihr den Haargummi zurück. Ich bedanke mich für die ambulante Versorung von Lea und bin heilfroh, dass ich wieder ein Display am Lenker habe, auch wenn mich die Zwangspause etwas Zeit und ein paar Platzierungen gekostet hat.
Die nächste Station auf der Tour ist der Cima Coppi für heute – Der 25 Kilometer lange Anstieg zum Grimselpass ist nicht besonders steil, aber besonders lang. Der erste Teil des Anstiegs ist etwas langweilig, aber ich spüre in mir auch die hohe Erwartungshaltung an einen Pass, dessen Name so oft fällt, wenn es um legendäre Anstiege geht. Allerdings rechtfertigt das letzte Drittel und insbesondere der Blick von der Passhöhe rüber auf den Rhone-Gletscher und Furkapass das Adjektiv „episch“ durchaus. Vom Grimsel geht es hinab ins Tal und anschließend im Zeitfahrmodus nach Laldeln, dem letzten Checkpoint vor dem finalen Anstieg nach Täsch, bzw. nach Zermatt. Tatsächlich fordern die finalen Kilometer mich noch einmal richtig heraus. Mit dem Zug fährt es sich so schön entspannt hoch nach Zermatt, erinnere ich mich. Mit dem Rad nicht unbedingt, erlebe ich – Erst recht nicht mit der Vorgeschichte des heutigen Tages. An der finalen Zeitnahme in Täsch ist das Rennen zunächst etwas unspäktakulär vorbei. Gemeinsam ein kurzer Smalltalk mit den Mitstreitern, die vor mir dort angekommen sind. Etwas mit Augezwinkern stellen wir die Frage in den Raum, ob man die restliche Strecke nach Zermatt, die ja ohnehin neutralisiert sei, nicht einfach mit der Bahn zurücklegen könne. Doch wer kann diese Frage mit mehr Weisungsbefungnis beantworten als Fabian Cancellara himself, der gerade mit ein paar Brötchen im Beutel am Lenker angerollt kommt. Seine Antwort ist klar: Zug könne man schon so machen, müsse dann halt nur nochmal die Strecke von Bern aus starten :-). Während Fabian auf seinen Staffelpartner wartet, (man kann das Event auch im Relais oder im Team bestreiten), fahre ich die letzten Kilometer weiter nach Zermatt, wo ich vor der späktakulären Kulisse des alten Toblerone-Logos die Jagd erfolgreich auf Rang 7 beende – nach 10 Stunden glatt.
Ich bin sehr zufrieden mit diesem Ergebnis und habe die Strecke sehr genossen. Die Veranstaltung ist top-organisiert und die Verpflegung lässt auch keine Wünsche offen.
Jetzt schaue ich erwartungsvoll und zuversichtlich auf mein Saison-Highlight im August – Das Race Across Switzerland und freue mich auch auf ein Wiedersehen mit Furka und Grimsel.
Martin
Tour
Details
- Anspruch (Gesamt) 40%
- Klettern 25%
- Abwechslung 70%
- Untergrund 90%
- Mentaler Anspruch 25%
Obwohl die Strecke auf recht großen Straßen verläuft, ist sie über weite Teile recht verkehrsarm. Viele Burgen und Fachwerk säumen den Weg.
Über mich

Martin Lechtschewski
Randonneur & Blogger
Hi, ich bin Martin und das Radfahren ist eine der wichtigsten Konstanten in meinem Leben. Die Faszination für Abenteuer hat mich zunächst zum Radreisen gebracht. Damals rollte ich noch behäbig über Tage bis Wochen mit 40 Kilo Gepäck über die Straßen Europas. Dabei war es immer diese eine Frage, die mich antrieb, weiter in die Pedale zu treten: "Wie ist es wohl auf den Sattel zu steigen und aus eigener Kraft eine anfangs scheinbar unwirkliche Entfernung zu überwinden, hohe Berge zu bezwingen, fremde Länder zu durchqueren und verschiedensten Menschen zu begegnen?"
Heute kann ich sagen, es ist vor allem eine Begegnung mit sich selbst. Der Moment des Starts und das Erreichen des Zieles spielen am Ende nur Nebenrollen - Es geht vor allem um die Wege dazwischen.
Da es der Alttag nicht ohne weiteres zulässt, 5-6 Wochen am Stück auf dem Rad zu verbringen, landete ich schließlich beim Renndradfahren auf langen Strecken mit möglichst wenig Gepäck. Statt einen Monat bin ich dabei nur ein paar Stunden (bisher nicht mehr als 86) unterwegs und tauche schon mit der ersten Pedalumdrehung ins Abenteuer ein. Heute sagt man dazu Ultracycling, vielleicht auch Bikepacking.
Mir geht es um DIE WEGE DAZWISCHEN