Zwei Kaffee bis Paris
Route auf KomootDas Wasser tropft auf die nassen Pflastersteine der Innenstadt. Die Cafés sind dennoch gefüllt bis auf den letzten Platz. Müde, aber erfüllte Gesichter. Hier liegen Lächeln und Schmerzmimik sehr dicht beieinander. Es ist ein Wirrwarr aus Stimmen und Sprachen. Jeder hat etwas zu erzählen, viel zu erzählen. Es muss ein sonderbares Bild sein, wenn man von außen darauf schauen würde. Aber hier schaut keiner von draußen drauf. Denn wer an jenem Donnerstag durch Rambouliet, einem beschaulichen Örtchen westlich von Paris, schlendert, der weiß um das, was hier gerade seinen gebührenden Abschluss findet und ist irgendwie auch Teil davon. „Paris-Brest-Paris“ ist an jeder Ecke zu lesen. Auf Wegweisern, in Restaurants, auf Transparenten. Es ist der Radklasssiker unter den Langstreckenfahrten. Hier wurde er am Sonntag gestartet und hier endet er an diesem Donnerstag. Fast 7.000 Radfahrer aus aller Welt stellten sich der großen Herausforderung, den Weg aus dem Pariser Umland zum Atlantik und wieder zurück in in maximal 90 Stunden zurückzulegen. 1212 Kilometer und 12.000 Höhenmeter liegen jetzt hinter ihnen. 7000 Radfahrer und jeder hat seine eigene Geschichte wieder mit nach Ramboulliet gebracht. Das hier ist nur eine davon.
Zum dritten Mal
Die Entscheidung, nochmal nach Paris zu fahren, fiel für mich noch 2019, dem Jahr der letzten Austragung. Die letzten beiden Male war ich schon zu Gast bei der Veranstaltung – 2015 gemeinsam mit Benedikt und Toni und 2019 allein. Einmal wollten wir nur ankommen, zu dritt, in der Zeit. Einmal wollte ich wissen, was geht und diesmal, will ich das wieder wissen.
Im Jahr von PBP muss man alle Brevets einer Serie als Qualifikation fahren: 200, 300, 400 und 600 Kilometer. Nach einem Auswärtsspiel in Gießen beim 200er bin ich dieses Jahr alle anderen Brevets bei Björn in Dresden gefahren. Allesamt sehr anspruchsvolle Strecken mit wesentlich mehr Höhenmetern pro Kilometer als in Paris. Meine Beine waren dieses Jahr aber gut, die mentale Verfassung stark. Die allermeisten Brevetkilometer habe ich als Solist verbracht und auch, wenn ich allen voran auf meinen eigenen Plan schaute, gab es mir ein gutes Gefühl, immer ganz vorn im Ziel zu sein. Auch die Bergausflüge mit Anne nach Südtirol und in die Vogesen in diesem Jahr geben mir Zuversicht, dass die Höhenmeter in Paris mir keine Sorgen machen sollten. Da gab es etwas anderes: Der unsichtbare und unerbitterliche Gegner des Radfahrers. Die teilweise sehr offene französische Hügellandschaft bietet optimale Bedingungen für Wind und der kommt bekanntlich meist von vorn. Die Wetterprognose verspricht zwar eine trockene Fahrt bei sommerlichen Temperaturen von 30°c am Tag und milden Nächten, allerdings einen Start bei Gegenwindverhältnissen. Das Wetter kann ich nicht beeinflussen und für alles andere fühle ich mich top vorbereitet. Kurz vor Paris habe ich auch den Rennsattel mit dem guten alten B17 getauscht. Optisch sicher kein Highlight und auch Grund für den ein oder anderen schiefen Blick am Start. Aber „Never change a running system.“ Schon während meiner letzten beiden Teilnahmen habe ich darauf Platz genommen und nie größere Sitzprobleme gehabt. Aufgrund des guten Wetters verzichte ich auch auf Regenklamotten und schrumpfe mein Gepäck auf eine Rahmentasche. Für die Anfangsphase möchte ich mir einen Beutel auf den Rücken schnüren. Anfangsphase – Mir ist bewusst, dass der Maltovorrat auf einem Rücken für etwa 400 Kilometer reichen wird. Viel eher werde ich nicht rucksackfrei fahren können, aber das geht bei 1200 Kilometern wohl noch als Anfangsphase durch.
Die Gruppe ist dabei
In den Tagen vor der Tour habe ich noch ein Whatsapp-Gruppe geöffnet, damit Familie, Freunde und Bekannte hier und da ein Update von unterwegs bekommen. Was dann aber in dieser Gruppe passiert ist, hat meine kühnsten Erwartungen übertroffen, mir oft ein lautes Lachen ins Gesicht gezaubert und die Nacht aufgehellt und es hat mich immer auch dezent von hinten geschoben – Diese Energie im virtuelle Raum. Großartige Menschen hinter mir zu wissen, war wichtiger für mich als die Not-Energiegels in der Tasche. Danke an euch alle und Danke Anne, dass du das so großartig moderiert hast! Ein paar Auszüge dürfen hier für sich sprechen.
Noch eine Stunde bis zum Start
Ich bewege mich langsam zum Bike-Check. Dabei schauen die Veranstalter kurz vor dem Start nochmal, ob man ein Fahrrad hat, einen Helm und eine Warnweste. Zum Glück hat mir Frau Kuschmelka kurz vor Abreise noch ein ISO-Label reingenäht. Damit nehme ich der Diskussion gleich den Wind aus den Segeln, weil ich die offizielle PBP-Weste bei den Temperaturen wirklich nicht gebrauchen kann. Danach heißt es nochmal warten in der Nachmittagshitze, noch ohne kühlenden Fahrtwind. Ich verabschiede mich für mehr als zwei Tage von Anne. Das fällt mir nicht so leicht, aber ich weiß, dass es für sie auch keine einfache Situation ist, wenn ich die Nächte auf dem Rad verbringe. Wenigstens bleibe ich ihr als kleiner Punkt auf der Landkarte erhalten, der sich hoffentlich nie aufhört, zu bewegen.
Punkt 16:00 Uhr wird die erste Gruppe auf die Strecke geschickt und jetzt wird es auch für mich ernst. Die zweite Gruppe bereitet sich vor. Ich schiebe mich außen durch die Reihen nach vorn, weil ich vom letzten Mal weiß, wie es in den ersten Gruppen nach dem Start abgeht und möchte nicht nach 5 Kilometern das Projekt P-B-P wegen eines Sturzes zu beenden. Flucht nach vor lautet die Devise, doch da ist leider auch der Wind. Das heißt also. Flucht nach nicht ganz vorn, oder so. Also der Startschuss für Gruppe B fällt, weiß ich, dass ich jetzt einfach durchhalten muss. Die nächsten 100 Kilometer werden mein persönlicher Horror. 200 Randonneure werden in einer Gruppe auf die Strecke nach Westen geschickt – 200 von fast 7000, die noch starten werden. Kaum sind die Pedale eingeklickt, geht das Geballer auch schon los. Positionskämpfe 1215 Kilometer vor dem Ziel. Hindernisse werden kaum angezeigt, von Schlaglöchern ganz zu schweigen. Mit Tunnelblick rausche ich durch den Wald von Ramboulliet. Die ersten Minuten zeigt mein Garmin kontinuielrich eine Vier vorn. Plötzlich taucht Marcus neben wir auf. Die Hektik lässt es aber kaum zu, dass man sich entspannt unterhalten könnte. Außerdem spült uns die „Waschmaschine“ immer wieder auseinander. Auch Lücken, die gar nicht da sind, werden hier genutzt, um dazwischen zu fahren. Nachdem ich durch das zweite Schlagloch gedonnert bin, entscheide ich mich, noch weiter nach vorn zu fahren, wo ich eine bessere Sicht auf die Straße habe. In den Abfahrten fahren von hinten immer wieder Fahrer auf, um am nächsten Hügel wieder im Weg zu stehen. Am ersten längeren Anstieg wird mir das unrythmische Gefahre einfach zu viel. Ich fahre vorn raus und hoffe, dass sich jemand anschließt und sich eine vernünftige Gruppe bildet. Nach ein paar Kurven im Wald bemerke ich aber, dass mir keiner gefolgt ist. Mutterseelenallein wird das hier nichts. Damit erkläre ich das Unterfangen für abgehakt. Nach ein paar Kilometern bin ich wieder im Pulk zurück. „Nach dem ersten Wasserstopp bei Kilomter 106 wird es besser“, sage ich mir immer wieder. So lange muss ich einfach noch durchhalten. Die Gruppe ist schon um die Hälfte reduziert. Im Flachen rollt der Zug, längst sind schon einige Starter der Gruppe A eingeholt. In dem herschenden Gegenwind bin ich jetzt dankbar, nicht allein schufften zu müssen. In Mortagne-au-Perche gibt es die erste offizielle Gelegenheit, die Flaschen aufzufüllen. Kaum halte ich an, schon steht eine ältere Frau neben mir und nimmt mir mein Rad ab, während ich anderen netten Menschen mit meine Flaschen zum Auffüllen reiche. Hier ist alles darauf ausgelegt, den Teilnehmern ein schnelles Weiterfahren zu ermöglichen. Also nichts mit Beine strecken. Nach wenigen Augenblicken sitze ich wieder auf dem Bock. Schnell fährt sich wieder eine Gruppe zusammen. Diesmal läuft es aber viel harmonsicher. Ich rolle relativ lange mit Carl aus Kanada, einem Typen in weißen Beinlingen, der mir schon am Start wegen dieses modische Faupaxes aufgefallen war. Ich weiß nicht, was er unter seinen Beinlingen versteckt hat, aber was auch immer es auch ist, es hat sehr viel Kraft. Im Flachen habe ich Probleme, sein Hinterrad zu halten, an den Wellen ist er froh, dass er nicht allein ackern muss. So haben wir irgendwie unseren Rhythmus gefunden, während die erste Nacht über uns hereinbricht. Die erste Nacht fahren die meisten Randonneure durch. Schließlich sitzt man noch nicht lange im Sattel und will schon ein paar Kilometer zurückgelegt haben, ehe man sich eine längere Pause gönnt. Da das mit dem Vorschlafen so eine Sache ist, die bei mir eher nicht klappt, spüre ich, dass ich schon seit heute morgen wach bin. Allerdings verliert die Müdigkeit recht kampflos gegen die einsetzende Euphorie, dass die erste Kontrolle in Villaines-la-Juhel nach 203 Kilometern erreicht ist – in weniger als 6 Stunden. Das Garmin zeigt mir einen 35,3er-Schnitt an. Damit wäre ich mal auf Kurs.
Nach einem kurzen Wasserauffüllen starte ich vor Carl wieder auf die Strecke. Mittlerweile ist ist es stockdunkel außerhalb der Ortschaften, aber meine Lupine schlägt eine helle Schneise ins Schwarz. Das Feld an Fahrern ist dünner geworden, aber hier und da erwische ich noch eine gute Gruppe auf meinem Weg durch die Nacht. So gelange ich bis ein Uhr nach Fougères (Kontrolle 2) nach 293 Kilometern. Nach 3 Teilnahmen kenne ich die Kontrollstellen ganz gut. Ich habe sie mittlwerweile fast alle auch sowohl tagsüber als auch nachts gesehen. Von Fougéres zieht sich die Strecke bis Tinteniac etwas. Der Wind bläst seicht von vorn und ich bin allein unterwegs. Die Nächte im August sind schon recht lang. Acht Stunden komplette Dunkelheit in Verbindung mit einem etwas eintönigen Profil könnten einen schon mürbe machen, aber nicht bei Paris-Brest-Paris! Ich interpretiere den mit Sonnenaufgang stärker werdenden Gegenwind als eindeutiges Anzeichen dafür, dass es nicht mehr weit bis zum Atlantik sein kann. Ich finde jetzt lange keine Gruppe mehr. Aber selbst in diesen unsäglich frühen Morgenstunden stehen immer wieder Menschen am Straßenrand. Und das nicht nur vor ihren Häusern, sondern auch gern mal mitten im Wald, auf dem Gipfel eines Hügels und warten auf uns. Ständig fliegt mir irgendwoher ein „Bravo“ oder „Bon Route“ zu. In den Cafés und Bars am Straßenrand stehn die Gäste auf und applaudieren, wenn ein P-B-P-Teilnehmer vorbeirauscht. Kinder strecken immer wieder die Hände zu High-Five aus. Auf einmal ist es aber kein Kind, das seinen Arm zu mir ausstreckt, sondern ein Mann in Warnweste. Irgendein glitzekleiner Teil in mir denkt für einen Moment, es handle sich um eine Verkehrskontrolle. Aber schnell ist mir dann klar, was hier passiert: Controle Secret – Geheimkontrolle. Klassischerweise gibt es bei P-B-P neben den bekannten Kontrollstellen auch zwei Unbekannte. Eine auf dem Hin- und eine auf dem Rückweg. Oft sind sie an Stellen platziert, wo man mal einen Hügel aussparen oder eine Abkürzung nehmen könnte. Bei einer Strecke, die relativ gerade nach Westen und dann genau so gerade wieder nach Osten führt und es keine möglichen Abkürzungen gibt, geht es hier wohl eher um das Happening an sich. Mit fast übertriebener Ernsthaftigkeit (wahrscheinlich ist es tatsächlich der Dorfpolizist) drückt mir der Kontrolleur den notwendigen Stempel in meine Startkarte und weiter geht´s.
Auf nach Brest
Es ist recht warm heute. Das ist genau mein Wetter, solange ich genug Wasser habe. Da die Kontrollstellen aber im Schnitt alle 80 Kilometer kommen, ist es eigentlich kein großes Problem hier. Nur einmal bemerke ich nicht, dass das Trinkwasser aus dem Hahn einer Kontrollstelle so sehr nach Chlor schmeckt als hätten sie es aus dem Schwimmbecken gepumpt. Da ich das Zeug nur zum Abduschen nehmen kann, muss der letzte Schluck guten Wassers in meiner zweiten Flasche jetzt aber doch bis Brest reichen.
Nach ein paar Kilometern rauscht plötzlich eine 4-Gruppe an mir vorbei. Ich sprinte, was noch geht, um auf den Zug aufzuspringen. Zum Glück geht´s gerade jetzt leicht bergan, so dass ich wirklich an die Gruppe rankomme. Auch wenn ich dort zunächst als Fremdkörper betrachtet werde, revanchiere ich mich am nächsten Hügel mit einer sehr langen Führung. Daraufhin gibt es von den übriggeblieben drei Franzosen einen Daumen hoch. Wir können zusammen nach Brest fahren. Zusammen rollen wir bis zur Stadtgrenze. 12:45 erreiche ich Brest nach 20,5 Stunden Gesamtzeit. Das Garmin zeigt nach 604 Kilometern und 6.000 Höhenmetern immernoch einen 30er- Schnitt an. Brest ist so eine Stadt, die ich bisher genau dreimal besucht habe. Mein Aufenthalt war jeweils nicht von langer Dauer und so soll es auch dieses Mal sein. Allerdings gönne ich mir hier mal eine richtige Mahlzeit im leeren Resaturant. Auf meine Frage, ob es auch kalte Getränke bekommen kann, ernte ich nur ein etwas mitleidiges Kopfschütteln von der Frau hinter dem Tresen. Etwas resigniert greife ich nach dem zimmerwarmen Eistee, als ich plötzlich die große Zapfanlage direkt neben mir wahrnehme. Ich muss gar nichts weiter sagen. Die Volunteerin hinter dem Tresen fragt auch nur rhetorisch, denn wir beide kenne die Antwort. Ich stelle den Eistee zurück.
Den Luxus leerer Kontrollstellen würde ich auf dem ersten Teil des Rückwegs jetzt nicht mehr haben, denn dort treffen sich fortan Hin- und Rückreisende. Die Anstiege aus Brest sind im Vergleich zum restlichen Profil recht steil. Tipptopp, direkt nach dem Mittagessen. Außerdem steht die Sonne senkrecht über den Straßen und die Temperaturen bewegen sich um die 26°c. Hinter Brest fahre ich in die zweite Geheimkontrolle hinein. Weiter geht es nach Carhaix-Plouguern nach 700 Kilometern, wo ich einmal gefühlt den gesamten kalten Wasserbestand der Bar leere. Nach der Erfahrung mit dem Schwimmbeckenwasser in der Flasche trinke ich nichts mehr, was aus der Leitung kommt. Mein Füße sind heißgelaufen. Ich muss aus den Schuhen raus und verschwinde kurz mit meinen reichen Wasservorräten im Schatten einer Mauer. Von weitem sehe ich noch Gabi und Björn aus Dresden auf ihrem Tandem aus der Kontrolle nach Brest abbiegen. Jetzt ein schönes Wassereis, oder 3 davon, wäre toll. Aber leider sind die Kontrollen nicht darauf eingestellt. Da wünsche ich mir doch wieder Brevets, wo ich mir meinen Kontrollstempel an einer Aral holen kann. Weiter geht´s nach Loudac. Die Sonne steht schon recht tief. Es ist aber immernoch recht warm. 21:37 erreiche ich wieder Loudeac nach 782 Kilometern. Ich habe auf den letzten Kilometern überlegt, wie ich jetzt durch die zweite Nacht kommen will. Auch wenn das letzte Solo im Gegenwind mich etwaws mürbe gemacht habe, fühle ich mich noch fit genug, um weiter zu fahren. Allerdings habe ich etwas Sorge, dass die kommenden 85 Kilometer zur nächsten Kontrolle in Titeniac zu den längsten Etappe für mich werden könnten. Außerdem bin ich voll auf Kurs, noch bei Tageslicht am Dienstag anzukommen. Ich telefoniere noch kurz mit Anne und mache dann etwas, das auch für mich Premiere bei P-B-P ist – Ich gönne mir einen Platz im Massenschlafsaal. Auch wenn die 50 Stunden verlockend winken, sage ich mir, bleib cool. Das Ziel war und ist, mit zwei Nächten durchzukommen und da bist du auf Kurs.
„Atemlos durch die Nacht“
Unter normalen Umständen ist so ein Schlafsaal nichts, wo es mich hinzieht. Aber Normalität ist schwer greifbar in diesen Stunden. Also stelle ich mich an am Eingang. Dort werde ich zunächst nach meiner Weckzeit gefraagt und anschließend wird diese in eine Liste eingetragen. Als ich sage, in viereinhalb Stunden, schaut mich der Volunteer an, als schlafe nur Lebowski 4 Stunden am Stück bei Paris-Brest. Ich organisiere mir noch ein schönes kaltes Gute-Nacht-Bier und lasse mich in den riesigen Schlafsaal führen. Alles ist stockdunkel. Nur hier und da leuchtet ein Handy in Kniehöhe. In der Sporthalle steht Klappliege an Klappliege. Der Volunteer führt mich an meinen Schlafplatz. Vor 10 ins Bett stellt sich doch als guter Move raus. Es ist noch relativ leer hier. Aber es sind natürlich schon genug Schnarcher anwesend. Die ranzige alte Decke, deren Nutzung in den 8€ Übernachtungsgebühren inklusive ist, versuche ich zunächst möglichst nicht mit meiner Haut zu berühren. Ich schaue noch einmal auf mein Telefon. Die WhatsApp-Gruppe war wieder aktiv: Die Communitiy hat an einer Playliste gefeilt, die mehr Wirkung haben sollte als jedes Energygel.
Ich stecke mir die Kopfhörer ins Ohr und lasse mir die subtilen Botschaften ins Unterbewusstein gravieren: „Ich will fliegen wie bei Marvel, ich hab Hunger, also nehme ich mir alles vom Buffet – I want to ride my bicycle, I want to ride my bike – Don´t Worry be happy – I want to get away, I wanne to fly away – Everybody dance Now! …..Und als ich eingewickelt in die ranzige Decke aufwache: „Jede Zelle meines Körpers ist glücklich“.
Tatsächlich wache ich vor dem Weckdienst gegen halb 3 wieder von allein auf und überraschenderweise sind bis auf ein paar Ausnahmen im Bereich der Sitzknochen alle Zellen gerade wirklich ganz glücklich. Ich packe meinen Krempel, den ich unter dem Bett verteilt habe wieder zusammen und trete nach draußen. Es ist ausgesprochen mild, so dass ich die Jacke gleich wieder ausziehen kann. Nur noch 440 Kilometer. Ich habe geschlafen, ich bin frisch. Los geht´s. Ich komme schnell wieder gut in Fahrt und weiß, dass ich heute wahrscheinlich keine Gruppe mehr finden werden. Die ganz Schnellen sind durch und von hinten kommt auch kaum jemand und somit bin ich jetzt im Solo-Modus. Immer wieder überhole ich Randonneuere, die bisher keine großen Pausen gemacht haben dürften. Ich spreche alle an, aber die Reaktionen sind nicht so vielversprechend und einen Untoten brauche ich überhaupt nicht am Hinterrad und so verabschiede ich mich immer recht schnell wieder. Da mir immernoch Fahrer entgegenkomme, rechne ich mir Kopf durch, ob es für sie überhaupt noch im Zeitlimit möglich sein wird, zurück in Ramboulliet zu sein. Eine Rechenaufgabe, die nach über 900 Kilometern gar nicht mal so leicht zu lösen ist. An einem Hügel lese ich einen Franzosen auf, der es schafft, im Windschatten mit zu rollen. Wortlos verbringen wir die Kilomter hintereinander her. Dass er keine Anstalten macht, auch mal eine kurze Führung zu fahren, nervt mich zwar etwas, aber auf der anderen Seite ist es mir gerade egal. Da steht auf der anderen Straßenseite plötzlich ein indischer Randonneuer. Er hat ein Problem. Ich gebe meinem Mitfahrer ein Handzeichen zum Anhalten, um zu schauen, ob wir helfen können. Mein Mitfahrer schaut verdutzt auf mich, als ich die Straßenseite wechsele und fährt zu meiner Überraschung weiter.
Beine für den Zielsprint antesten
Ich schau mir das Problem an. Da ist der Endanschlag nicht mehr stimmig. Aber ein Einheimischer wird schnell auf uns aufmerksam und gibt uns den Tipp, dass gleich um die Ecke ein Radladen sei. Ich wünsche dem Mitstreiter eine gute Fahrt und drehe mich wieder um gen Westen und erst jetz wird mir die kleine Unverschämtheit meines letzten Mitfahers richtig bewusst. Da schleppe ich ihn kilometerlang mit und halte an, um einem anderen Randonneur zu helfen und er fährt weiter, ehrlich?! Ich weiß, was zu tun ist. Was wäre P-B-P ohne einen Zwischensprint, um unerwünschte Lutscher los zu werden. Nach ein paar Kilomtern sehe ich auf der kerzengeraden Straßen den Sportsfreund langsam wieder vor mir und nähere mich von hinten an, bis ich das Sprinterloch erreicht habe. Dann trete ich mit allem, was noch in den Beinen ist an und knalle an ihm vorbei. Ob so ein Zwischensprint vernünftig ist auf so einer Langstrecke? Nö, aber das war es mir wert.
Es ist später Nachmittag, als ich erneut Mortagne-au-Perche bei Kilometer 1099 erreiche. Es ist die vorletzte Kontrolle vor dem Ziel und ab dort kenne ich die Strecke gut. Noch 220 Kilometer ins Ziel – Das ist eine Leipzig-Prag über Chemnitz. Die Kilometer purzeln. Noch 140 Kilometer – Dresden-Prag. Dann etwas mehr als 100 Kilometer – Dresden-Bad Lausick. Noch 88 Kilometer- zweimal Lieblingsrunde. Noch 75 Kilometer – meine Feierabendrunde in die sächsische Schweiz. Noch 48 Kilometer – Arbeitsweg hin und zurück. Ab Dreux bin ich die Strecke schon mit Anne abgefahren. Ab hier gibt es wenige Hügel. Es kann geballert werden – so wie man halt nach 1180 Kilomerern noch ballern kann. Noch 44 Kilometer- einmal Lieblingsrunde. 24 Kilometer – Arbeitsweg. Und ab jetzt werden die Kilometer plötzlich länger. Ich habe Einstein nicht zu 100-prozentig verstanden, aber ich meine, es hat was mit der Ausdehnung des Raumes zu tun, wenn man mit Licht fährt. Die Dämmerung setzt langsam ein, aber der Wald von Ramboulliet ist erreicht.
Schließlich biege ich in den Schlosspark ein und fahre über die Zeinahmestelle. Von hier geht es noch über 200 Meter über eine Gravelpiste in den Zielempfang. Es ist geschafft. Im Slalom nähere ich mich dem Ziel, was Anne zu Annahme führt, dass ich es doch nicht sei. Aber ich bin es und bin mehr als glücklich nach 53 Stunden und 3 Minuten und 1214 zurückgelegten Kilometern wieder „zu Hause“ bin. Getragen hat mich Anne und natürlich die tolle Whatsapp-Gruppe, die PBP für mich zur virtuellen „Gruppenfahrt“ gemacht haben. DANKE! DANKE! DANKE!
Nach 3 Teilnahmen bei PBP ist das Kapitel für mich erstmal abgeschlossen. Denn Paris-Brest-Paris ist für mich kein Lebensziel, sondern es geht mir ums Radfahren auf langen Strecken, nicht um Start und Ziel sondern um die Wege dazwischen. Diese Wege dürfen auch neue Herausforderungen kreuzen.
Fun Fact: Ich als ausgewiesener Kaffee-Junkie habe auf dem ganzen Weg nur zwei kleine Kaffee gehabt. Das ist die eigentliche Höchstleistung für mich. 🙂
Tour
Details
- Anspruch (Gesamt) 95%
- Klettern 50%
- Abwechslung 60%
- Untergrund 90%
- Mentaler Anspruch 90%
Es ist der Klassiker der Rennrad-Langstrecke, der alle 4 Jahre von der französischen Hauptstadt an den Atlantik führt und wieder zurück. Offizielle Verpflegungsstationen gibt es ca. alle 80 Kilometer, aber im Grunde ist es das längste Volksfest der Welt. Auf den 1200 Kilometern steht eigentlich in jedem Dorf jemand, der einem Wasser, Kaffee, Crêpes oder alles auf einmal reicht. Das Zeitlimit beträgt 80 oder 90 Stunden. Ein abwechslungsreiches Abenteuer, bei dem man nur auf eins verzichten muss: ausreichend Schlaf.
Über mich
Martin Lechtschewski
Randonneur & Blogger
Hi, ich bin Martin und das Radfahren ist eine der wichtigsten Konstanten in meinem Leben. Die Faszination für Abenteuer hat mich zunächst zum Radreisen gebracht. Damals rollte ich noch behäbig über Tage bis Wochen mit 40 Kilo Gepäck über die Straßen Europas. Dabei war es immer diese eine Frage, die mich antrieb, weiter in die Pedale zu treten: "Wie ist es wohl auf den Sattel zu steigen und aus eigener Kraft eine anfangs scheinbar unwirkliche Entfernung zu überwinden, hohe Berge zu bezwingen, fremde Länder zu durchqueren und verschiedensten Menschen zu begegnen?"
Heute kann ich sagen, es ist vor allem eine Begegnung mit sich selbst. Der Moment des Starts und das Erreichen des Zieles spielen am Ende nur Nebenrollen - Es geht vor allem um die Wege dazwischen.
Da es der Alttag nicht ohne weiteres zulässt, 5-6 Wochen am Stück auf dem Rad zu verbringen, landete ich schließlich beim Renndradfahren auf langen Strecken mit möglichst wenig Gepäck. Statt einen Monat bin ich dabei nur ein paar Stunden (bisher nicht mehr als 86) unterwegs und tauche schon mit der ersten Pedalumdrehung ins Abenteuer ein. Heute sagt man dazu Ultracycling, vielleicht auch Bikepacking.
Mir geht es um DIE WEGE DAZWISCHEN