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Pragtour 2024

Route auf Komoot

Charakter Edition

Jetzt ist es zwar schon einige Wochen her, dass sich wieder eine Gruppe durchgeknallter Radfahrer aufgemacht hat, die 300 Kilometer von Leipzig nach Prag an einem Tag gemeinsam unter die Räder zu nehmen, dennoch verdient dieser epische Ausflug einen Beitrag. Die Bedingungen und die Ereignisse auf der Strecke haben das Ganze zu einem ungewollten Ausscheidungsfahren gemacht, das eigentlich bereits vor dem eigentlichen Start seinen Anfang nahm.

Pragtour 2024

Ausscheidungsfahren

Die traditionelle Pragtour ist schon seit jeher ein wenig von Petrus` Daumen abhängig. Nach den vielen „Daumen hoch“ der letzten Jahre (Top-Bedingungen), einigen Daumen zur Seite (Geht-so-Bedingungen), gab es in diesem Jahr wenig schön zu reden. Sein Daumen neigte sich bereits in der Vorwoche der Tour jeden Tag ein wenig mehr nach unten (Bleib-lieber-zu-Hause-auf-der-Couch-Bedingungen). Von den 20 angemeldeten Teilnehmern (Ausverkauft) sollte es für einige der erste 300er sein und ich machte mir Sorgen, ob das der richtige Tag für dieses erste Mal sein sollte. Diese Fragen beantworteten einige für sich verständlicherweise bereits in den Tagen vor dem Start mit einem ehrlichen „Nein“. Bei anderen sendete der Körper bereits im Vorfeld klare Warnungen. Die Abmeldungen summierten sich mit jedem Tag, mit dem die Tour näher rückte und sich Petrus Daumen unerbittlich weiter senkte. Am Vorabend in Leipzig war klar, dass am nächsten Samstagmorgen von den 20 angemeldeten Radfahrern nur 13 (+ Mathias, der in Dresden zusteigen würde) die Strecke tatsächlich in Angriff nehmen würden. Ehrlichgesagt hätte ich mir für diesen Tag auch viele andere Dinge viel besser vorstellen können als bei Temperaturen um die 5°c und Dauerregen für 12 Stunden auf ein Rad zu steigen. Irgendwie finde ich den Vergleich des Kapitäns auf dem sinkenden Schiff auf mehreren Ebenen recht treffend.

Und so packten wir uns um 4:30 in unsere Regenkluft in der sicheren Gewissheit, diese heute sehr lange als eine Art zweite Haut zu tragen. Bereits die Fahrt zum Völki, dem Startort machte klar, dass Petrus nicht geblöfft hatte. Wasser von allen Seiten. Und so war es am Start allen ganz genehm, wieder in Bewegung zu kommen und so rollten wir pünktlich aus der Stadt. Ich atmete einmal tief durch, als wir die letzten glitschigen Straßenbahnschienen der Vorstadt hinter uns gelassen hatten und auch keiner sein Schaltröllchen vorm Ortsausgangsschild verloren hatte. Allerdings ärgerte ich mich jetzt bereits, nicht die dicken Winterhandschuhe mitgenommen zu haben. Ich spürte schon nach 15 Kilometern meine Finger kaum noch. Für den ersten Mitfahrer  hieß es bereits jetzt, eine nicht so leichte, aber nachvollziehbare Entscheidung zu treffen (Ich hätte es zu diesem Zeitpunkt vermutlich auch, aber Kapitän und so…). Da waren es nur noch 12. Mir ging es gerade so blöd durch den Kopf: „12 kleine Radfahrer radelten mal nach Prag“, als plötzlich Thomas, der neben mir fuhr mein Handzeichen zum Abbiegen nicht bemerkt hatte und weiter geradeaus fuhr, während ich nach rechts abbog. Blöderweise war Thomas auf dieser Seite und so schlitterten wir schlängelnd aneinander gelehnt über die nasse Straße, konnten das Ganze aber irgendwie ohne Sturz aussteuern und kamen hinter der Kreuzung zum Arm in Arm zum Stehen. Kurz Adrenalinkick am Morgen wirkt besser als ein Espresso Dopio. Gleichzeit fragte ich mich jetzt ernsthaft, wie viele der „12 kleinen Radfahrer“ am Ende des Liedes in Prag übrig geblieben sein werden.  

Sehnsucht nach einem Platz unter der Brücke

Die schönen kleinen Sträßchen Richtung Muldental konnten wir nur bedingt wahrnehmen. Vielmehr galt es auf die Bewegungen vor einem zu achten. Quietschnende Scheibenbremsen an jeder Abbiegung. Nur diejenigen die auf Felgenbremse unterwegs waren, verschlissen ihr Material im Stillen. In Dresden würde es dank der wundervollen Annett und Nina kurzes heilendes Eiland für uns geben, das für alle die kraftgebende Motivation zu sein schien. Auf dem Elbradweg riss es durch die vielen Kurven die ganze Gruppe weit auseinander. Einige preschten vorn heraus, einfach um warm zu bleiben. Eine Gruppenfahrt sieht sicher anders aus, aber die Bedingungen machten das beinahe unmöglich. In Meißen sah ich plötzlich Thomas am Rand des Radweges vor mir stehen. Die uneinsichtige Stelle, vor der er stand, gefiel mir gar nicht. Irgendetwas musste passiert sein. Der Rest der Gruppe hielt an und dann sahen wir schon die zwei Räder von Dikt und Mieth liegen. Sie waren in dieser tückischen Kurve der Nässe zum Opfer gefallen. Beiden schien zum Glück nichts ernsthaftes passiert zu sein. Der Blick auf die Räder brachte allerdings schnell die traurige Gewissheit, dass Mieth die Tour nicht fortsetzen würde – Rahmenbruch an mehreren Stellen! Nach einer kurzen Bestandsaufnahme entschied sich Thomas, dem das Wetter auch sichtlich zugesetzt hatte, Mieth mit dem Zug zurück nach Leipzig zu begleiten. Was für eine Sch….“ Da waren es nur noch 10“ – Raus aus meinem Kopf! Etwas betröpfelt (im warsten Sinne des Wortes) erreichten wir das Blaue Wunder in Dresden, wo unsere beiden Engel des Tages direkt unter der Brücke ein 5-Strerne Plus-Buffet bereitet hatten. Neben allen Leckereien, inklusive selbstgebackenem Kuchen waren vorallem die bereitliegenden Decken und das heiße Wasser (wahlweise auch als Kaffee gereicht) die eigentlichen Highlights an diesem Tag. Auch die Unterstützung beim Schmieren der Brötchen nahmen wir alle dankend an. Die eingeschränkten motorischen Fähigkeiten und die zittrigen Gliedmaßen bereitet doch eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Den einzigen Vorteil, den ich daraus zog: Ich verteilte mir den heißen Kaffee, den ich wie einen heiligen Gral umschloss, gleichmäßig über meine Hände. Das brachte auch langsam das Gefühl wieder zurück. Einige hätten die Decken am liebsten mit aufs Rad genommen. Trotz dieses absurden Bildes von 10 fröstelnden Gestalten, die nicht mal in der Lage waren, sich selbst Brote zu belegen und Geschichten erzählten, wie schlimm dieser Ritt bisher gewesen war und dass es auch nicht alle bis hierhin geschafft hatten, ließ sich Mathias nicht abschrecken und er stieg gut gelaunt in die Gruppe ein. Die Energiespeicher wieder bis knapp über die Reservelampe gefüllt, warfen wir die Decken von uns, um uns der nächsten Etappe zu stellen. Und eines stimmte uns optimistisch: Schlimmer konnte das Wetter nicht werden! Und auch der Elbradweg würde recht frei sein. 

Da hinten wird´s schon wieder hell

Tatsächlich wurde das Wetter ab Dresden besser (Petrus` Daumen zeigte nur noch im 65°-Winkel nach unten). Über Decin erreichten wir in Male Brezno ziemlich bald den einzigen Anstieg des Tages. Sicherlich in Regenkluft kein Tag, um auf KOM-Jagd zu gehen, aber es kamen alle gut hoch. Oben sammlten wir uns vor dem örtlichen Lädchen und probierten uns durch die lokalen Backwaren. Auf die Einplanung einer ausgiebigen Mittagspause in einem Restaurant hatte ich verzichtet, mit dem Ziel, Prag etwas früher zu ereichen und lieber ein gemeinsame Finisher-Mahl zu genießen. An dieser Stelle wollten alle nur noch eins – Ankommen. 

Die letzte Etappe führte durch ein etwas hügeliges Landschaftsprofil und schließlich hinunter zur Moldau. Diese Einfahrt nach Prag, die wir seit letztem Jahr fahren, ist sehr entspannt, da wir dem Moldauradweg bis in die Stadt folgen. Ziel sollte in diesem Jahr nicht der Wenzelsplatz sein, sondern die Burg. Das bedeutete allerdings, dass wir innerhalb der Stadt noch einmal ein paar letzte Höhenmeter überwinden mussten. Bei blauem Himmel und schöner Abendsonne erreichten wir den Zielstrich und wurden wie immer von Thomas und Tim in Empfang genommen – dem besten Support-Team ever! Auf den Finisherfotos erinnert später nur der Dreck an den Rädern an die Wetterverhältnisse in den Stunden zuvor. Nach einem wirklich allerletzten Anstieg zum Hotel waren wir alle bereit für böhmische Brauereierzeugnisse. 

Die Pragtour 2024 war mit Sicherheit eine der Härtesten. Es werden auch wieder Genießerausgaben kommen – Die letzte Ausgabe wird es jedenfalls mit Sicherheit nicht gewesen sein. Anmeldungen für 2025 werden entgegengenommen 🙂

Über mich

Über mich

Martin Lechtschewski

Randonneur & Blogger

Hi, ich bin Martin und das Radfahren ist eine der wichtigsten Konstanten in meinem Leben. Die Faszination für Abenteuer hat mich zunächst zum Radreisen gebracht. Damals rollte ich noch behäbig über Tage bis Wochen mit 40 Kilo Gepäck über die Straßen Europas. Dabei war es immer diese eine Frage, die mich antrieb, weiter in die Pedale zu treten: "Wie ist es wohl auf den Sattel zu steigen und aus eigener Kraft eine anfangs scheinbar unwirkliche Entfernung zu überwinden, hohe Berge zu bezwingen, fremde Länder zu durchqueren und verschiedensten Menschen zu begegnen?"

Heute kann ich sagen, es ist vor allem eine Begegnung mit sich selbst. Der Moment des Starts und das Erreichen des Zieles spielen am Ende nur Nebenrollen -  Es geht vor allem um die Wege dazwischen.

Da es der Alttag nicht ohne weiteres zulässt, 5-6 Wochen am Stück auf dem Rad zu verbringen, landete ich schließlich beim Renndradfahren auf langen Strecken mit möglichst wenig Gepäck. Statt einen Monat bin ich dabei nur ein paar Stunden (bisher nicht mehr als 86) unterwegs und tauche schon mit der ersten Pedalumdrehung ins Abenteuer ein. Heute sagt man dazu Ultracycling, vielleicht auch Bikepacking

Mir geht es um DIE WEGE DAZWISCHEN