Es war mein persönliches Langstrecke-Highlight in diesem Jahr werden – und das wurde es! Auch wenn am Ende auf dem Papier ein nüchternes „DNF“ stehenbleibt, war die Erfahrung Race Across Switzerland eine ganz wundervolle Begegnung mit mir selbst und am Ende habe ich eine Entscheidung getroffen, mit der ich auch heute keineswegs hadere. Was war da los?
Last Minute zur Apotheke
Es ist der Dienstagnachmittag vor dem Rennen. Nach viel Nervosität der letzten Tage geht es nun endlich Richtung Start, also mit einem kleinen Umweg über die Apotheke. Die letzten Tage habe ich noch einmal intensiv am Rad geschraubt, das Tretlager gewartet, das Schaltwerk auseinandergenommen, den Antrieb gewechselt, die Lichtanlage richtig installiert und die Taschen gepackt und am Rad angebracht. Bei all diesem „Gewurschtel“, wie Anne es nennen würde, habe ich eine klitzekleine Kleinigkeit nicht gecheckt – den bestehenden Maltodextrin -Vorrat. Der war von mir unbemerkt zur Neige gegangen und so musste ich eine kurze Last-Minute-Bestellung bei der Apotheke machen. Zum Glück bis nachmittags bestellbar – und so stehe ich pünktlich mit Carina am Bahnsteig Richtung Klosters und befülle direkt vor Ort meine kleine „Drogentütchen“ mit Malto-Überlebenspulver. Jetzt habe ich alles was ich brauche zusammen.
In Klosters steige ich aus dem Zug und bin direkt am Startbereich des Race Across Switzerland. Für heute steht nur noch der Bike Check an. Alles sehr französisch. Bereits am Check-in fällt mir das auf, als der französische Sportler vor mir am Tresen eine ausführliche Erklärung zum Ablauf von Bike-Check und Start, sowie Infos zum Basecamp erhält, meine Check-In ungefähr so ab: „English? Ah, yeah, all in the bag here. Bon route!“. Ok, auch wenn ich nicht den Eindruck habe, den gleichen Informationsstand übermittelt bekommen zu haben, schnappe ich mir die Papiertüte und denke mir: „Das wird schon selbsterklärend sein.“ Beim anschließenden Bike-Check werden alle vorgeschriebenen Items bis aufs letzte überprüft. Den Öko-Becher und die Langfingerhandschuhe darf ich zu Hause lassen. Nach dem Bike-Check breche ich gleich in mein Hotel auf. Im Restaurant will ich mir nochmal ein «Henkersmahl gönnen». Auch wieder eine witziger Dialog: Ich zum Kellner: „Ich hätte gern den Sommersalat und die Spagetti Bolognese.“ Kellner: „Der Sommersalat ist aber ein Hauptgang.“ Ich: „Macht nichts. Sie können ihn ruhig etwas größer machen.“ Bis dahin läuft alles wie geplant. Allerdings komme ich in dem kleinen Hotelzimmer nicht gut zur Ruhe und dennoch bin ich bereits vor dem Wecker wieder wach. Nach dem Frühstück bleiben mir noch 90 Minuten zum Start – genug Zeit also. Am Start gibt es noch ein Feierliches Opening mit Streckenvorstellung. Jeder Anstieg wird einzeln vorgestellt. Es geht ein wenig zu wie beim Quartett: «Länge des Anstiegs», «Höhenmeter», «maximale Steigungsprozente» – Die Zahlen überbieten sich gegenseitig. Aber irgendwoher müssen die 17.000 Höhenmeter Anstieg auf dem 1000 Kilometer langen Kurs ja kommen
Der Start
10:32:30 Sekunden gehe ich mit der Nummer 1005 endlich auf die Strecke – als 7. Starter. Während der Countdown herunter gezählt wird, richte ich meinen Blick nach vorn – für ein letztes Foto vor dem Start und um meinen Fokus auf das zu legen, was schon seit einem Jahr in meinem Kalender steht. Ich weiß meine Freunde, meine Familie und auch meine Kollegen hinter mir. Einige haben sich wie schon bei Paris-Brest-Paris in einer Whatsapp-Gruppe zusammengefunden, um mich aus nächster Nähe zu begleiten, andere schauen aus der Ferne per Dot-Watching dem kleinen Pünktchen auf der Landkarte zu. Selbst von meinen Arbeitskollegen aus den USA bekomme ich motivierende Nachrichten. Ich selbst habe mir vorgenommen, vor dem ersten Pass, dem Bernardino nicht einmal auf den Tracker zu schauen, sondern einfach zu fahren – zügig, aber ohne zu überpacen. Nach wenigen Kilometern sehe ich zwei Mitstreiter vor mir und überhole sie alsbald in einer recht geschmeidigen Abfahrt durch das Tal. Schon nach den ersten 14 Kilometern kommt der erste kleine Berg. In den Serpentinen sehe ich niemanden mehr – weder vor mir, noch hinter mir. Sind die ersten da so losgeballert, dass sie schon aus meinem Sichtfeld verschwunden sind? Ich versuche meinen Puls unter Kontrolle zu behalten, da ich weiß, dass ich am Anfang immer erst einmal mein Tempo finden muss. Über Chur geht es langsam Richtung Süden und die seichte Steigung dort liegt mir recht gut. Ich komme gut voran und die Kilometer fallen. Gleichzeitig spüre ich die Hitze, die durch den Fahrtwind allerdings nur wie ein warmer Föhn in mein Gesicht bläst. Ich ahne, dass das mit dem Fahrtwind wohl bald erstmal ein Ende hat. Die Route führt zunächst über den Bernardino-Pass ins Tessin. Ich habe mittlerweile einen guten Rhythmus gefunden und schraube mich so langsam Richtung Passhöhe nach oben, als ich das erste Mal kurz in die Whatsapp-Gruppe schaue und etwas überrascht feststelle, dass ich an irgendeiner Stelle, die übrigen 4 Mitstreiter vor mir überholt haben musste. Die 1005 ist im Lead. Ich bin vorn. Das hätte ich nicht erwartet, aber gut, jetzt heißt es umso mehr, nicht zu überpacen. Ich tanke noch einmal Wasser an einem Brunnen. Ein Tourenradfahrer, der dort auch gerade Pause macht, scheint etwas irritiert zu sein, ob des seltsamen Anblicks des Radfahrers, der so schnell wie möglich versucht, seine Flaschen zu füllen ohne dabei Zeit zu verlieren. Während ich etwas ungeduldig warte, bis der dünne Wasserstrahl meine Flasche füllt, fragt mich der Radler: „Und, wo geht es noch hin heute?“ Da mein Flasche noch immer nicht voll ist, drehe ich mich zu ihm um: „Über den Bernardino, den Gotthard, den Furka, den Grimsel und die Große Scheidegg.“ „Wow, an wie vielen Tagen“ „Hoffentlich alles heute nacht.“ Es ist dieser „Du-verarschst -mich-doch-Blick“, der mich trifft, als ich wieder auf das Rad steige, aber ich rufe die Erklärung noch über meine Schulter: „Es ist ein Rennen.“ und schon bin ich wieder im nächsten Teil des Anstiegs.
Strong
Auf einmal entdecke ich einen Racer hinter mir, der sich langsam herankämpft und mich schnaufend mit dem Wort „Strong“ überholt. Ich weiß nicht, ob er seine eigene Leistung noch feiern wollte oder ob das mir galt, nach dem Motto: «You are strong…, but I am stronger.» Gemeinsam schlängeln wir uns die leere Passstrasse hinauf. Er setzt sich nach und nach vorn ab, bis ich ihn im Anstieg nicht mehr vor mir sehen kann. Auf der Passhöhe angekommen, verliere ich gar keine Zeit, sondern stürze mich direkt in die Abfahrt – vermutlich die letzte bei Tageslicht heute. Im ersten Dorf im Tessin muss ich wieder anhalten. Mein Wasser ist alle. Während ich an einem Brunnen meine Flaschen fülle, überholt mich ein weiterer Fahrer. Er trägt die Nummer 1053. Vor dem Rennen habe ich die Starterliste nach bekannten Sportlern gescannt und Julien Chorier war der Einzige, der mir dabei aufgefallen war. Schnell schwinge ich mich wieder auf den Sattel.
Von hier an geht es über kleinere Hügel durchs Tal Richtung Bellinzona. Immer wieder sehe sich die anderen beiden Sportler vor mir. Mit jeweils 100 Metern Abstand drücken wir im Timetrial-Modus auf die Pedale. An den leichten Wellen merke ich, dass ich immer etwas näher auffahre und so entscheide ich mich nach 2-3 Wellen wieder in den Lead zu gehen, da mir dieses Profil offenbar besser liegt als meinen beiden Mitstreitern, die ihre Vorteile wohl eher an den längeren Anstiegen ausspielen können. Ich erhöhe die Intensität, ohne dabei in den roten Bereich zu gehen und kann mich über die Wellen wieder etwas absetzen. Allerdings beendet eine Schranke im nächsten Ort meinen Ausreißversuch. Fortan fahren wir recht nah beieinander Richtung der zweiten Prüfung für heute – dem Gotthardpass. In der der Abendsonne entscheide ich mich, in einer Pizzeria noch zwei alkoholfreie Biere zu exen, bevor ich den Tremolo in Angriff nehme. Wieder blicke ich in ein verblüfftes Gesicht als ich die leeren Flaschen nach 3 Minuten wieder über den Tresen reiche.
Kurz bevor ich weiterfahren will, überholen mich noch zwei weitere Mitstreiter. Die Temperaturen sind mittlerweile bei angenehmen 25 Grad angekommen. Ich fahre in der Abendsonne über die ersten Pflastersteine eines legendären Anstiegs, überhole den Racer, der in der Pause an mir vorbeigekommen ist. Während ich mich Kurve um Kurve nach oben winde, bin ich wieder vollkommen mit mir allein. Allein mit der Strasse, die sich unaufhörlich in den Himmel schraubt, der nach und nach seine blaue Färbung verliert und in ein von Sternenleuchten durchbrochenes Schwarz übergeht. Jetzt sehe ich das erste Mal auch, wie das Licht meines Supernova-Scheinwerfers in der Dunkelheit wirkt. Bislang hatte ich seine Leuchtkraft nur in einer Unterführung kurz in etwas Dunkelheit getestet. Gute Vorbereitung ist alles :-). Aber ich bin auch bei meiner recht langsamen Bergauffahrt über Kopfsteinpflaster sehr zufrieden mit der Ausleuchtung. Die Kopflampe brauche ich nicht.
Tremola
Die Aussicht auf das Bergpanorama weicht dem fokussierten Blick auf den Lichtstrahl, der die Strasse hinauf Richtung Himmel zeigt. Bei dem Anblick der Serpentinen, die über mir mit dem Dach des Himmelszeltes zu verschwimmen scheinen, lösen in mir ein Bewusstsein für die eigene Winzigkeit in dieser großartigen Arena der Natur aus. Und gleichzeitig ist es ein unglaublich belebendes Gefühl, dass ich mit Stetigkeit in der Lage bin, zu diesem Dach aufzusteigen, so dass ich es fast berühren kann. Dann erinnere ich mich, dass ich diese Reise Richtung Himmel heute noch 3 Mal wiederholen werde. Ich nähere mich allein der Passhöhe, als ich vor mir ein paar Taschenlampen auf der Strasse flackern sehe. Als ich mich nähere, erkenn ich, dass es die Media Crew ist, die ein paar Impressionen von der ersten Nacht einsammelt. Eine kurze Begegnung im Dunkel der Nacht und schon bin ich wieder allein.
Schon beim Anblick des Strassenverlaufs auf dem Garmin wird mir schwindelig. Jetzt fühle ich, warum die Tremola so heißt, wie sie heißt. In den letzten Kehren habe ich den Eindruck, im Kreis zu fahren, so eng und umschlungen sind die Kurven. Als ich die Passhöhe erreiche, dringen nur aus dem Passhotel ein paar Menschenstimmen zu mir vor. Sonst ist es totenstill – leider auch nicht das Geräusch eines fließenden Brunnens, auf das ich gehofft habe. Meine Flaschen gehen langsam zur Neige, aber noch habe ich noch etwas. Es ist selbst hier oben noch angenehm warm. Für die Abfahrt ziehe ich mir kurz die Ärmlinge an und ab geht es über das Kopfsteinpflaster des Tremolo hinunter durch die Schwärze der Nacht. Jetzt schalte ich das erste Mal das Fernlicht zu und die Strasse vor mir wird Tag hell. Das Auto, das mir entgegenkommt, blendet mir auf, weil ich blende. Selbst in der Abfahrt kann ich gut laufen lassen. Nach ein paar Kilometer taucht vor mir plötzlich ein Wohnmobil auf, das insTal fährt. Nach 2-3 Kurven habe ich das Vertrauen, das mein Licht gut genug ist, um schneller zu fahren. Ich zische an dem Gefährt vorbei und fliege förmlich ins Tal. Doch der nächste Anstieg lässt nicht lange auf sich warten. Im nächsten Dorf höre ich aus einer Seitengasse ein vertrautes Plätschern. Ich fülle meine Flaschen, eine Prise Salz dazu und weiter geht’s. Der Furka wartet schon. Über Realp schlängele ich mich erneut nach oben in den Sternenhimmel.
Gletschereis und Cappuccino
Das Bergpanorama, das ich mir dabei in meinem Kopf ausmale, ist gigantisch. Allerdings sehen meine Augen davon nicht viel mehr als den asphaltierten Teppich, der sich vor mir erstreckt und der unaufhörlich nach oben zeigt. Schließlich erreiche ich kurz vor Mitternacht die Passhöhe nach 277 Kilometern. Wieder das gleich Bild wie schon auf dem Gotthard – ein paar Camper, ein paar Stimmen in der Ferne, sonst nur der Sternenhimmel ganz dicht über mir und das Gefühl des Flows. Ich ziehe mir die Armlinge an und weiter geht es hinab Richtung Gletsch. Nach ein paar Kehren mache ich noch einen kurzen Fotostopp an dem bekanntesten Passhotel der Welt – dem Belvédère. Allerdings ist der Anblick bei Nacht wenig spektakulär. Ich platziere Carina in der Kehre, um ein kurzes Beweisfoto zu machen. Als ich dafür die Straße quere, spüre ich auf einmal eine fast eisige Kälte, die aus dem Tal über mich zu ziehen scheint. In diesem Moment fällt mir ein, dass das wohl der Gruß des Rhone-Gletschers sein muss. Ich drehe mich und meine Augen starren in die Finsternis und dann plötzlich, als sie sich etwas an die Dunkelheit gewöhnt haben, kann ich ein paar helle Umrisse wahrnehmen. Das sind die noch verbliebenen Überreste dieser Eiszunge am Furkapass. Schon beim Chasing Cancellara hatte ich sie aus der Ferne gesehen vom Grimselpass. Das ist das Stichwort. Dort wartet der nächste Anstieg. Ich verabschiede mich und lass mich von der Schwerkraft weiter ins Tal tragen.
Schnell bin ich in Gletsch und damit auch schon beim Grimsel, der von dieser Seite nicht besonders schwierig zu fahren ist, allerdings bin ich nach 3 Pässen nicht mehr ganz taufrisch. Im Anstieg muss ich auch einmal anhalten, um mal kurz durchzuatmen. Weit und breit keine Menschenseele. Auf den Live-Track habe ich schon lange nicht mehr geschaut. Als ich die Passhöhe erreiche, ist es schon so frisch, dass ich sogar die Beinlinge anziehe, da es jetzt 30! Kilometer bergab geht. Es ist die Strecke, die ich dieses Jahr schon einmal hochgefahren bin – nicht zu steil und super ausgebaut und um diese Zeit überhaupt kein Verkehr.
In Guttannen, einem kleinen Ort vor Innertkirchen habe ich bei Google im Vorfeld einen 24-Stunden Shop entdeckt und diesen fest in meine Verpflegungsstrategie eingeplant. In der Schweiz sind 24 Stunden-Tankstellen meist nur Tankautomaten. Da hat man als Radfahrer nicht so viel davon. Aber es gibt dafür ganz viele Bauernlädli mit Selbstbedienung. Nur ist das Sortiment, wie der Name schon sagt, nicht unbedingt an Sportlerbedarf orientiert. Dieses Lädli sah allerdings recht vielversprechend aus und so rolle ich voller Vorfreude in das Dorf. Ich habe mir einen Wegpunkt gesetzt auf dem Garmin und laut diesem müsst das Lädli jetzt kommen und…tatsächlich taucht es hinter einer Hausecke auf. Hinter der gläsernen Schiebetür erblicke ich ein golden scheinendes Schlaraffenland für Randonneure – frisches Obst in Hülle und fülle, Backwaren, Wurst, Käse, Riegel, Salziges, Süßes, Joghurt und sogar ein Kaffeeautomat! Gern würde ich mich selbst in diesem Moment von Aussen sehen. Vermutlich starre ich mit leuchtenden Augen auf das arrangierte Sortiment wie ein Kind kurz vor der Weihnachtsbescherung auf einen Berg voller Geschenke. Wie hat es Hannibal schon immer gesagt? „Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert.“ Keine Ahnung, warum ausgerechnet das A-Team jetzt in meinem Kopf ist. Egal, ich greife zur Klinke und…Widerstand. Ich versuche noch einmal – immer noch keine Bewegung der Tür. Sie ist verschlossen. Ohne jeden Zweifel, zu. Ich frage mich, was Hannibal jetzt tun würde. Etwas enttäuscht bin ich am überlegen, wie viele von diesen ekelhaften Riegeln, die meine Tasche säumen, ich jetzt noch essen muss. Dann erblicke ich ein Hinweisschild neben der Tür. Dort bleiben meine Augen auf dem „24 Stunden“ hängen. Ok, wenn es dort steht, muss es so sein! Und tatsächlich findet sich da ein kleine Anleitung, wie man sich als nächtlicher Besucher mit seiner Telefonnummer verifizieren muss und darauf den Zugangs-Code per SMS bekommt. Dieses Hand-in-Hand zwischen abgelegenem Dorf und so neuzeitlicher Technik wie Zugangscode und Verifikation per Smartphone bekomme ich in meinem Kopf auch nach mehr als einem Jahr Schweiz noch nicht zusammen in meinem Kopf. Ich stelle mir so, wie es wäre, so etwas in der Sächsischen Schweiz aussieht, wo so manches Café 11 Monate im Jahr einfach geschlossen ist. Und so kann ich es irgendwie nicht ganz glauben, dass ich im nächsten Moment dann doch in dem kleinen Laden stehe und die mich zügeln muss, nicht alles in meinen kleinen Einkaufsbeutel zu stopfen, was mir in die Hände fällt. Natürlich gönne ich mir hier auch einen heißen Cappuccino und strecke meine Beine etwas aus.
Der Scharfrichter
Dann geht es weiter nach Innertkirchen, wo der letzte große Anstieg für diese Nacht auf mich wartet – die Große Scheidegg. Das ist der einzig Anstieg, mit dem ich so noch gar keine Berührungspunkte hatte. 18 Kilometer, 1300 Höhenmeter klingt jetzt auch nicht nach nichts, allerdings bin ich etwas skeptisch, als mir das Garmin erzählt, ich sei schon im Anstieg und es eigentlich noch viel zu flach für einen Anstieg ist. Wenn die Höhenmeter und die verbleibende Distanz des Anstiegs stimmen, verheißt das nichts Gutes. Und wenig später bemerke ich, wie die Straße sich immer weiter in die Vertikale begibt und es sich dann im zweistelligen Prozentbereich bequem macht. Ich versuche abwechselnd im Sitzen und im Stehen Kraft auf die Pedale zu bringen, merke aber alsbald, dass meine Übersetzung hier an Grenzen stößt – oder ich mit meiner Übersetzung. Das erste Mal bemerke ich ein leichtes Ziehen in meinem Knie, immer wenn ich im Sitzen fahre. Also fahre ich den größten Teil im Stehen, was das Knie entlastet, die Sache aber nicht weniger anstrengend macht. Immer wieder muss ich anhalten, um ein Schluck zu trinken und komme nur schwer wieder in die Pedale, da die Steigung es kaum zulässt, etwas Schwung zu holen. Ich bewege mich gefühlt unendlich lange durch ein Waldstück, bevor ich auf einer Lichtung wieder Blick auf den Sternenhimmel habe, aber da ist noch etwas anderes am Nachthimmel über mir.
Ich brauche einen Moment, um es zuordnen zu können. Was soll da schon noch zwischen mir und Himmel sein, auf mittlerweile wieder fast 2000 Metern? Aber da thront etwas, weit über mir, wie ein Riese, der auf mich herabschaut, meine Winzigkeit noch einmal unterstreichend und auch meine Grenzen aufzeigend. Es ist der Mönch, gerahmt von Eiger und Jungfrau. So nahe war ich den Dreien noch nie. Ich spüre plötzlich wieder eine unglaubliche Motivation in mir. Das kleine Licht, das sich über die letzten Kilometer durch den Wald von hinten genähert hat, wird mit jeder Kehre wieder kleiner und verschwindet schließlich ganz. Am höchsten Punkt angelangt, streife ich meine Jacke über und jage die Abfahrt hinunter. Es geht Richtung Interlaken und an den Thuner See. Doch auf dem Weg dahin bemerke ich auch auf den Flachstücken, das der letzte Anstieg nicht spurlos an meinem Knie vorbeigegangen ist. Ich komme dennoch zügig voran in dem leicht abfallenden Profil. Plötzlich rase ich durch eine größere Ortschaft mit Hotels und Restaurants. Ich überlege, wo ich jetzt Wohl sei, als plötzlich zwei Asiaten mit Rollkoffern mitten auf der Straße stehen und ich gerade noch so ausweichen kann. Die Nacht kommt dem Ende entgegen und ich frage mich kurz, ob das gerade weiße Kaninchen in Kostümen waren. Dann frage ich mich, wie sie wohl auf die Situation geschaut haben, als in der Stille der Schweizer Berge aus dem Nichts plötzlich ein Radfahrer aus der Nacht geschossen kommt. Erst dann wird mir klar, das hier war gerade Grindelwald. Jetzt färbt sicher Himmel langsam dunkelblau und die ersten Autos überholen mich. Es ist ein Donnerstag. Das heißt, es gibt Berufsverkehr und davon nicht wenig. Ich habe in meine optimistischen Planung gehofft, hier etwas eher durchzukommen. So teile ich mir die Uferstraße am Thunersee jetzt mit Pendlern und spüre, das ich gerade nicht mehr im Flow bin. Auch mein Knie lenkt die Aufmerksamkeit an jedem Anstieg mittlerweile auf sich. Ich nehme Tempo raus und frage mich, was hier gerade los ist? Vom viel befahrenen Thuner See geht es wieder ab Richtung Süden und dabei geht es wieder auf wunderschöne unbefahrene kleine Sträßchen.
Die Entscheidung
Allerdings lande ich alsbald auf einem eher weniger schönen Abschnitt und kämpfe mich auf für Schweizer Verhältnisse großen. Verkehrsadern steile Anstiege hinauf, immer wieder dicht überholt von Autos und LKWs. Bisher war die Route wunderschön und mir ist auch klar, dass solche Abschnitte oft nicht komplett vermeidbar sind, allerdings erwische ich sie zu einem für mich unpassenden Zeitpunkt, da ich gerade sehr mit mir selbst zu tun habe und mich das erste Mal die Frage umtreibt, ob ich das Ziel erreichen werde. Die Temperaturen liegen mittlerweile jenseits der 30 Grad und mit meinem Merinowolle-Trikot komme ich mir vor wie mit einer Winterjacke auf einer Beachparty. Auch wenn die Streckenführung mir zunehmend wieder mehr zusagt, führe ich mittlerweile einen ständigen Dialog mit meinem Knie: „Würde es dir helfen, wenn ich etwas rausnehme? Wollen wir längere Pausen machen? Im Flachen kann ich dir ein paar Pausen können, allerdings kommt da noch was.“
Ich entscheide mich, die Race Pace aufzugeben und mache einige ausgedehnte Pausen, telefoniere mit Anne, die mir Mut zuspricht. Auch scrolle ich durch mein WhatsApp, wo mir so viele virtuelle „Allez-Allez“-Rufe entgegenfliegen. Ich bin bewegt. Danach fühle ich mich wieder besser, aber leider nur bis zum nächsten Anstieg. Mittlerweile fühlt es sich bei jedem kraftvollen Pedaltritt so an, als würde mir jemand mit dem Messer ins Knie stechen. So lange ich locker treten kann, bin ich ohne Schmerz. Das lässt das Streckenprofil allerdings nur selten zu hier im französischen Teil der Schweiz. Jetzt fühlt sich jeder Hügel nach einem Pass an, da ich nur mit einem Bein gut treten kann.
An einem Coop in Granges-près-Marnand steige ich schließlich vom Rad, hole mir ein eiskaltes Bier aus dem Kühlregal und treffe eine Entscheidung, die sich auf einmal ganz klar und leicht anfühlt. 30 Kilometer vor der Halbzeit ist das Race Across Switzerland 2025 nach etwas mehr als 26 Stunden, 492 Kilometern und 9570 Höhenmetern beendet. Irgendwie bin ich überrascht, das ich in mir keinen Zweifel in mir spüre. Zu klar waren die Signale meines Körpers. Und so steht jetzt hinter dem sportlichen Jahresziel auf dem Papier ein DNF. Viel wichtiger ist für mich aber, was in meiner eigenen Erinnerung bleibt. Und das ist eine Nacht voller epischer Anstiege, die es auch einmal wert sind, bei Tageslicht zu erkunden und die Überwältgung von der Schönheit der Natur.
Race Across Switzerland – Danke für diese Erfahrung. Ich komme wieder!
Und herzlichen Glückwünsch an Julien Chorier zu dieser starken Leistung und dem Sieg.
Über mich

Martin Lechtschewski
Randonneur & Blogger
Hi, ich bin Martin und das Radfahren ist eine der wichtigsten Konstanten in meinem Leben. Die Faszination für Abenteuer hat mich zunächst zum Radreisen gebracht. Damals rollte ich noch behäbig über Tage bis Wochen mit 40 Kilo Gepäck über die Straßen Europas. Dabei war es immer diese eine Frage, die mich antrieb, weiter in die Pedale zu treten: "Wie ist es wohl auf den Sattel zu steigen und aus eigener Kraft eine anfangs scheinbar unwirkliche Entfernung zu überwinden, hohe Berge zu bezwingen, fremde Länder zu durchqueren und verschiedensten Menschen zu begegnen?"
Heute kann ich sagen, es ist vor allem eine Begegnung mit sich selbst. Der Moment des Starts und das Erreichen des Zieles spielen am Ende nur Nebenrollen - Es geht vor allem um die Wege dazwischen.
Da es der Alttag nicht ohne weiteres zulässt, 5-6 Wochen am Stück auf dem Rad zu verbringen, landete ich schließlich beim Renndradfahren auf langen Strecken mit möglichst wenig Gepäck. Statt einen Monat bin ich dabei nur ein paar Stunden (bisher nicht mehr als 86) unterwegs und tauche schon mit der ersten Pedalumdrehung ins Abenteuer ein. Heute sagt man dazu Ultracycling, vielleicht auch Bikepacking.
Mir geht es um DIE WEGE DAZWISCHEN